Wie rational ist eine Corona Panik?

Es gehört zu den größten Irrtümern der Vertreter von „behavioral economics“, dass eine Panik irrational ist. Wenn ein Feuer im Kino ausbricht, ist es sehr wohl rational als erster zum Ausgang zu stürmen, um der Möglichkeit zu entgehen, als einer der Letzten zu verbrennen. Gleiches gilt auch für den Verkauf von Aktien in einem Börsencrash. Wie rational ist eine Corona Panik?

Projektionen

Epidemiologen verwenden (wie Ökonomen) Systeme von Differentialgleichungen zur Projektion von Epidemien. Ein einfaches Modell ist das sogenannte SIR Modell. Es modelliert den Übergang von gesund zu krank zu in der Vergangenheit infiziert (geheilt oder tot, aber nicht neu ansteckend) als System von drei Differentialgleichungen, das an realen Daten kalibriert wird. Ich habe das Modell an chinesischen Daten (aus den ersten Wochen) kalibriert und auf Deutschland angewendet (unter der Annahme fehlender Quarantäne aber geschlossener Grenzen). Einen Startbestand von 700 Infizierten bei 80 Millionen Einwohnern und einem Ansteckungskoeffizient von 2.1 gegeben, ergibt sich folgendes Bild.

In einem Jahr hätten sich damit mehr als 70% der Einwohner Deutschlands infiziert. Die Gesamtinfizierten beinalten sowohl die Genesenen, als auch die Verstorbenen. Beide Gruppen können niemanden mehr infizieren.

Unsicherheiten

Natürlich ist die Analyse mit erheblichen Unsicherheiten behaftet. Beispielsweise ist es enorm schwer zu ermitteln, wie viele Gesunde ein einzelner Kranker ansteckt. Diese Zahl wird entweder überschätzt (weil viele milde Fälle nicht gezählt werden) oder unterschätzt (weil die Toten heute nicht den Infizierten heute gegenüberstellt werden können, da sie in der Vergangenheit infiziert wurden). Zudem besteht die Möglichkeit, dass der Mittelwert gar nicht verlässlich schätzbar ist, weil die Verteilung gar keinen stabilen ersten Moment hat. Dennoch ist die Analyse sinnvoll, weil sie ein Szenario zeigt, in das man ohne entschiedenes Handeln leicht gelangen kann.

Implikationen

Das Robert Koch Institut rechnet bei 10% der Infizierten mit einem schweren Verlauf. Im Gegensatz zur Grippe ist die Behandlung des Corona Virus dann sehr geräteintensiv. Zusammen mit der viel längeren Verweildauer dieser Patientengruppe in der Intensivpflege ist das Gesundheitssystem schnell überlastet. In meinem Modell (ohne Quarantäne) gibt es in der Spitze ca. 16.5% Neuinfizierte. Nimmt man davon 10% schwere Fälle und multipliziert das mit einer Bevölkerung von 80 Millionen benötigt man 1.32 Millionen Plätze für die Intensivpflege. Gegenwärtig gibt es in Deutschland etwa 28000 Notfallbetten, die auch mit anderen Krankheiten belegt sind. Man kann die Rechnung auch umdrehen. Selbst wenn die Hälfte aller 28000 Notfallbetten für Corona Patienten frei sind, kann das Land nur 1.4 Millionen zeitgleich Infizierte verkraften. Das erklärt die aggressiven Bemühungen Chinas, Israels und mancher unserer Nachbarländer, die verstanden haben, welche Belastungen das Virus für das Gesundheitssystem hat.

Now is the time to panic!

 

4 thoughts on “Wie rational ist eine Corona Panik?

  1. Doris Welke says:

    Hallo Bernd,
    also was tun?
    Jetzt tatsächlich Schulen und Kitas schließen, um die Ausbreitung zu verlangsamen?
    Und auf baldige Erwärmung hoffen?
    Gruß Doris

    • SeniorAntiStatesman says:

      Strengere Maßnahmen wären sinnvoll. Man kann den Konflikt zwischen Wirtschaftsminister und Gesundheitsminister erahnen. Großveranstaltungen erst über 1000 Teilnehmer abzusagen ist Teil dieses Kompromisses. In Deutschland reagiert man erst auf gestiegene Zahlen, die man aber schon heute projizieren kann. Das ist fahrlässig. Es wäre an der Zeit jetzt zu Paniken (bildlich), d.h. beispielsweise Corona-Ferien, Mindestabstände, Absage von Tanzveranstaltungen, etc.

  2. Joel Krimmel says:

    Und wieso rechnen Sie mit der Annahme, dass keine Quarantänen eingerichtet werden? Das ist ja wohl faktisch mehr als falsch und verzerrt das Modell stark.

    • SeniorAntiStatesman says:

      Das Modell (kommt zu den gleichen Schätzungen wie das RKI) zeigt warum es notwendig ist den Ansteckungskoeffizienten jetzt(!) massiv zu senken. Es analysiert eine imaginäre (hoffentlich) kontrafaktische Situation (steht genau so im Beitrag) und illustriert die Logik der Maßnahmen der Chinesen. Die Chinesen haben (im Gegensatz zu den Deutschen) die Situation sehr genau und vor allem sehr frühzeitig verstanden.

      Modelle sind immer Parabeln über die Realität und nur Modelle sind in der Lage “contrafactuals” zu evaluieren. Deshalb sind sie ja so nützlich… Man kann das Modell beispielsweise auch verwenden um zu errechnen wie weit man den Ansteckungskoeffizienten senken muss, um innerhalb der Kapazität des Gesundheitssystems zu bleiben. Quarantäne lässt sich in diesen Modellen über einen gesunkenen Ansteckungskoeffizient modellieren. Daher habe ich auch die Zahlen zu Beginn des Ausbruchs in China zur Kalibrierung gewählt.

      Schön, dass Sie den Beitrag so aufmerksam und mit so viel Verständnis gelesen haben!

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