Ein alltägliches Szenario
Unter MIFID II muss der Vertrieb allen von ihm angebotenen Produkten einen Zielmarkt zuweisen. Der Zielmarkt beschreibt, für welche Kundenkategorien das Produkt grundsätzlich geeignet ist. Dabei müssen alle Produkte nach einer Reihe von Kriterien (Anlageziele, Anlagehorizont, Verlusttragfähigkeit, Risikoaversion, erforderliche Kenntnisse, etc.) konsistent eingestuft werden. Klingt intelligent? Ist es aber nicht.
Wir beginnen mit einem Beispiel. Eine junge Pflegekraft mit geringem Einkommen, geringem Vermögen (10.000 Euro Finanzvermögen) und geringer Risikobereitschaft (2 von 7) gibt als Sparziel „Vermögensanlage“ an. Der Zeithorizont beträgt ein 1 Jahr.
Die korrekte Lösung des Wirtschaftswissenschaftlers
Aus wissenschaftlicher Sicht ist das Problem einfach. Während das Finanzvermögen der Pflegekraft klein ist, ist ihr Gesamtvermögen deutlich höher. Nehmen wir den Barwert der Ersparnisse über das Berufsleben (unter Berücksichtigung von Liquiditätskosten) als 90.000 Euro an. Nehmen wir weiter an, ein Investor mit Risikobereitschaft von 2 wird nur 5% seines Gesamtvermögens in ein Portfolio aus riskanten Anlagen investieren (Aktien, Rohstoffe, Unternehmensanleihen, Hedge Fonds). In diesem Fall wird der intelligente Berater empfehlen, 50% des Finanzvermögens (5000 Euro) in obiges Portfolio zu investieren. Damit entspricht ihr Anteil riskanter Anlagen am Gesamt-vermögen den gewünschten 5% (5Tsd von 100Tsd Euro). Kein Vertrieb in Deutschland wird diesen Anlagevorschlag unterbreiten. Entsprechend der Fallstudien in der ESMA Broschüre würde die ESMA selbst maximal einen Rentenfonds ohne Währungsrisiken als geeignet ausweisen.
Die Fehler des Regulators oder die Unkenntnis der Juristen
Wie oben gesehen, verletzt der Regulator gleich gegen eine Vielzahl gesicherter normativer wissenschaftlicher Erkenntnisse.
1. Partizipationstheorem: Jeder (!) Anleger wird zumindest einen kleinen Teil des Vermögens in ertragsbringende (riskante) Anlagen investieren.
2. Portfoliotheorie: Jedes Wertpapier ist nur auf seinen Portfoliobeitrag zu beurteilen. Einzelbetrachtungen sind ökonomisch unzulässig.
3. Barwertadditivität: Ein Mischfonds und die Summe der Einzelfonds sind immer gleich viel wert.
4. Weitestgehende Irrelevanz des Zeithorizonts: Grundsätzlich findet man im wissenschaftlichen Diskurs Modelle, die argumentieren, dass der optimale Anteil an Aktien mit dem Zeithorizont steigen oder sinken kann. Aber es gibt kein Modell, dass den optimalen Aktienanteil bei einer Haltedauer von einem Jahr als Null ansetzt.
5. Hintergrundrisiken: Höhe und Eigenschaft des individuellen Humankapitals haben starken und vielfältigen Einfluss auf die Anlageentscheidung.
Dies offenbart ein generelles Problem. Die normative Wirkung der Regulierung widerspricht dem normativen Rat der Wissenschaft. Optimale Anlage für Privatanleger ist ein kompliziertes Problem, das durch Ökonomen gelöst werden kann. Gesetzliche Restriktionen verschlechtern die Problemlösung. Im obigen Beispiel bekommt unser Musteranleger den Zugang zu globalen Risikoprämien verwehrt. Mit dem bekannten Ergebnis für Partizipation an globalem Wachstum. Die Auswirkungen auf die Vermögensverteilung sind sicher unerwünscht.
Einwände?
Befürworter der Zielmarktbestimmung mögen lamentieren, dass der Vertrieb außerhalb des Zielmarktes zumindest aufsichtsrechtlich nicht hart verboten ist. Nach den Erfahrungen der Bankenbranche mit idiosynkratischen Richtern (die einen entscheiden so, die anderen so) birgt die individuelle Begründung der Geeignetheit (entgegen der standardisierten aufsichtsrechtlichen Vorgabe) erhebliche zivilrechtliche Risiken. Der rationale Berater wird also eher sein Rechtsrisiko als das Kundenrisiko managen. Weiten Kundengruppen wird so aber der Zugang zum passgenauen Produkt verwehrt.
Was kann man sonst dem Regulator zu Gute halten? Der Regulator mag argumentieren, dass er dem reduzierten Schaden einer falschen Selbsteinschätzung des Kunden (oder des Beraters) den erhöhten Schaden für einen rationalen Anleger (er kann nicht so anlegen wie es im obigen Fall eigentlich optimal für ihn wäre) gegenüberstellt. Schaut man in das ESMA Dokument so findet man eine Liste selektiver Behauptungen ohne einen Versuch der Begründung statt echter Kosten Nutzen Analyse.
Bewertung
Würde man politisches Dogma durch wissenschaftliche Analyse ersetzten würde klar werden, dass niemand eine solche Analyse durchführen kann. Weder hat der Regulator die notwendigen Informationen noch kann er objektiv gewichten welche Interessen ihm wichtiger sind. Es bleibt bei einer ideologischen Entscheidung. Sie nützt dem Regulator (mehr Stellen, mehr Einfluss), den Management-Beratern, den Juristen und den Großbanken (Fixkostendegression von mehr compliance). Sie schadet vielen Kunden direkt, aber allen indirekt (geringerer Wettbewerb und höhere Kosten). So verschärft Regulierung das Verteilungsproblem. Geringverdienern wird der Zugang zu ertragsreichen Anlagen verwehrt. Man nennt das wohl regulierte Ungleichheit!